BAG: Kein Präventionsverfahren bei Kündigung eines Schwerbehinderten in der Wartezeit (§ 1 Abs. 1 KSchG)

BAG-Urteil

Laut Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 3. April 2025 (Az. 2 AZR 178/24) ist ein vorheriges Präventionsverfahren nicht zwingend notwendig, sofern der Arbeitgeber gegenüber dem schwerbehinderten Arbeitnehmer die ordentliche Kündigung innerhalb der sechsmonatigen Wartezeit laut Kündigungsschutzgesetz ausspricht.

Sachverhalt 

Der Kläger, zu 80 % schwerbehindert, wurde als Leiter für Haus- und Betriebstechnik beschäftigt. Dem Arbeitgeber war die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers bei Vertragsabschluss bekannt, daher nahm er bei dem Aufgabenprofil auf dessen individuelle Leistungsfähigkeit Rücksicht. Es wurde eine Probezeit von sechs Monaten vereinbart. Der Arbeitgeber stellte 3 Monate nach Arbeitsbeginn fest, dass der Kläger für die Ausübung seiner Tätigkeit fachlich ungeeignet war und sprach infolge dessen die Kündigung aus. Gegen diese Kündigung ging der Kläger vor, da er sich benachteiligt und diskriminiert fühlte. Er argumentierte, die Kündigung sei unwirksam, da weder ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt worden noch ein Angebot eines alternativen behinderungsgerechten Arbeitsplatzes erfolgt sei.  

Entscheidung  

Das Gericht entschied, dass die Kündigung in der Wartezeit ohne Durchführung eines Präventionsverfahrens wirksam war und eine Diskriminierung nicht stattfand. Es stellte fest, dass die Kündigung aufgrund mangelnder fachlicher Eignung des Klägers beruhte und er deshalb nicht wegen seiner Behinderung benachteiligt wurde. Dies konnte der Kläger nicht hinreichend widerlegen. Insbesondere sah das Gericht keine weiteren Anhaltspunkte für eine Diskriminierung. Es bestand auch keine Pflicht, einen neuen Arbeitsplatz für den Kläger zu schaffen. 

Kernpunkte der Urteilsbegründung

Keine Diskriminierung laut AGG:

Die Kündigung verstoße nicht gegen das Benachteiligungsverbot aus § 7 Abs. 1, §§ 1,3 AGG i.V.m. § 134 BGB.  

Es fehle schon an einem Verstoß gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthielten.  

Klarstellend urteilten die Richter, dass die Vorschrift des Präventionsverfahrens während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG nicht zur Anwendung käme. Dies ergäbe sich nicht nur aus der Auslegung des Wortlauts des § 167 Abs. 1 SGB IX, sondern auch aus der sog. systematischen Auslegung der Norm. So spiele das Präventionsverfahren zwar eine tragende Rolle bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Kündigung, eine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung stelle sie aber nicht dar. 

Auch aus der Entstehungsgeschichte der Norm ließe sich nichts anderes ableiten. Trotz umfassender Reform im Behindertenrecht (u. a. durch das Bundesteilhabegesetz 2016 und das Teilhabestärkungsgesetz 2021) sei der Wortlaut von § 167 Abs. 1 SGB IX unverändert geblieben. 

Keine Unwirksamkeit wegen unterlassener „angemessener Vorkehrungen“ i.S.d. UN-Behindertenrechtskonvention oder EU Richtlinie 2000/78/EG:

Ferner wurde klargestellt, dass die Durchführung eines Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX grundsätzlich keine angemessene Vorkehrung im Sinne von Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG oder Art. 27 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 2 Abs. 3 und 4 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) darstelle. 

Nach Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG ist der Arbeitgeber verpflichtet, „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen, um Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.  

Art. 2 Abs. 4 UN-BRK definiert „angemessene Vorkehrungen“ als notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen. 

Das Präventionsverfahren sei lediglich ein Suchprozess, mit dem angemessene Vorkehrungen ermittelt werden können.  

Kein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und das Maßregelungsverbot: 

Weder ein Verstoß gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB noch gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB läge vor.  

Treuwidriges Verhalten durch Arbeitgeber?  

Das Gericht ließ mangels Entscheidungserheblichkeit offen, welche Rechtsfolgen das Nichtergreifen angemessener Vorkehrungen durch einen Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung eines Arbeitnehmers mit Behinderung im Einzelfall haben kann. Der Kläger hätte darlegen müssen, dass die Kündigung auf willkürlichen, sachfremden oder diskriminierenden Motiven erfolgte, was er allerdings nicht hinreichend tat. Unstreitig war, dass die fachliche Nichteignung des Klägers für seine vertraglich vereinbarte Tätigkeit in keinem Zusammenhang mit seiner Behinderung stand. Etwaige behinderungsspezifische Vorkehrungen des Arbeitgebers hätten den fachlichen Mangel nicht beseitigen können. Der Kläger hatte auch keine alternativen freien, für ihn geeigneten Arbeitsplätze im Betrieb des Arbeitgebers genannt. Insofern bestand für den Arbeitgeber keine Pflicht zur Weiterbeschäftigung. 

Greift das Maßregelungsverbot? 

Laut Ansicht der Richter nein. Die maßgebliche Norm des § 612a BGB verbietet dem Arbeitgeber bei einer Maßnahme zu benachteiligen, wenn dieser in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. Da der Kläger aber vor Zugang der streitbefangenen Kündigung keinerlei Ansprüche, wie etwa das Vorschlagen konkreter behinderungsspezifischer Maßnahmen, geltend gemacht hat, läge hier kein Verstoß gegen das Maßregelungsverbot vor. 

Auswirkungen für die Praxis 

Das Urteil ist aus Klarstellungsgründen zu begrüßen. Nachdem vereinzelte Gerichte sich in der Vergangenheit für die Notwenigkeit eines Präventionsverfahrens während der kündigungsrechtlichen Wartezeit entschieden, schafft diese Entscheidung wieder Rechtssicherheit. 

Arbeitgeber müssen nicht zwingend ein Präventionsverfahren durchführen, um ihrer Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen gegen eine mögliche Diskriminierung nach unionsrechtlichen Vorgaben nachzukommen. Insbesondere darf das Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen auch während der Wartezeit gekündigt werden, sofern der Kündigungsgrund auf fachlicher Ungeeignetheit beruht. Eine solche Kündigung ist nicht automatisch diskriminierend. 

 


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